Eigentor

von Rolf Ronck Autorendaten Private Mail an den Autor - Leserbriefe

"Wenn ich sage, du sollst deine Vorderleute dirigieren, dann meine ich damit nicht, dass du stumm mit deinen dämlichen Armen Luftlöcher schlagen sollst !"
Friedbert Gehner stellte sich demonstrativ neben seinen Torwart und versuchte diesem vorzumachen, was er unter "dirigieren der Vorderleute" verstand. Torsten Bergmann, sechsundzwanzigjähriger Keeper der Sportfreunde Heidenthal, stieß die behandschuhten Hände in die Hüften, blähte die Wangen auf und blickte genervt auf die Kappen seiner Fußballschuhe.
Das ging jetzt schon zwei Jahre so. Selbst wenn das Team gut gespielt und überlegen gewonnen hatte, fand Gehner bei keinem seiner Spieler Grund zum Meckern, außer beim Torwart.
Torsten Bergmann atmete auch diesmal tief durch. "Okay, Trainer, hab's kapiert". Er hatte von Gehners Ausführungen zwar nichts mitbekommen, doch es war ja jedesmal dieselbe Leier. Ein Lächeln legte sich auf sein schweißnasses Gesicht, als er daran dachte, dass dieser Kotzbrocken bald die Quittung für all seine Schikanen erhalten würde. Zwei Stunden später, fuhr Torsten Bergmann, der Junggeselle war und immer noch im Hotel Mama wohnte, mit seinem Fahrrad auf der spärlich beleuchteten Hauptstraße Heidenthals auf sein Ziel zu, am Nordrand des Ortes. Als er am "Dorfkrug" vorbei kam, stellte er zufrieden fest, dass der liebe Friedbert, wie erwartet, seinen blauen Audi auf den Parkplatz neben dem Lokal abgestellt hatte und bei seinen Skatfreunden einen hoffentlich langen Abend verbrachte. Er lenkte seinen Drahtesel durch das enge Gartentor der Hausnummer achtzehn im Eichenweg. Er stieg ab, und schob das Rad hinters Haus, welches auf dieser Seite an ein Wäldchen grenzte, das den Bewohnern Heidenthals als Naherholungsgebiet diente. An der Hintertür angekommen, hob er gerade die Hand, um das verabredete Klopfzeichen zu geben, als er im Flur Schritte hörte. "Ich bin's", flüsterte er, "Der Mann vom Umweltschutz. Ich soll fragen, ob die Luft rein ist!"
Vanessa Gehner öffnete, hob die Augenbrauen und zischte: "Könntest dir zur Abwechslung mal was Originelles einfallen lassen.

Auf die Frage, ob seine Ehe glücklich sei, hätte Friedbert Gehner garantiert geantwortet: "Sicher! So sicher, wie der Ball rund ist."
Seine Frau, mit der er seit knapp fünfzehn Jahren verheiratet war, war da anderer Meinung. Vanessa Gehner war jetzt Mitte dreißig, arbeitete ganztags als Arzthelferin und hatte von einer glücklichen Beziehung eine ganz andere Auffassung.
Der gute Friedbert verbrachte ihr einfach zuviel Zeit in seinem Sportverein. Dreimal die Woche Training, samstags das Spiel, sonntags Besprechung im Klubhaus, das bedeutete: kein freies Wochenende, dazu noch der wöchentliche Skatabend.
Wenn er wenigstens den lassen würde. "Ich muß auch mal was anderes sehen, an was anderes denken, als an Fußball", rechtfertigte er sich, wenn sie ihn darauf ansprach. "Und wann hast du m i c h mal angesehen, so richtig meine ich?", hätte sie ihm dann gerne zur Antwort gegeben. Aber sie ließ es lieber, er würde es doch nicht verstehen, resignierte sie.
Und als Katharina Bergmann damals mit ihrem Sohn Torsten in den Ort zog und Vanessa Torsten zum erstenmal sah, fühlte sie sich von dem zehn Jahre Jüngeren sofort angezogen. Als er dann Torhüter wurde, ging sie sogar auffallend oft zu den Heimspielen.
Aufgefallen ist dieses Interesse, das mittlerweile gegenseitig wurde, sehr vielen im Ort, nur ihrem Mann nicht. Daß ihre Ehe kinderlos blieb, empfand sie als große Belastung.
Und jetzt ging sie stramm auf die Vierzig zu. "Der Zug ist abgefahren. Das Kapitel "Kinder" ist für mich abgeschlossen", mußte sie sich selbst des öfteren in einer Art Trotzhaltung bremsen, wenn die Sehnsucht nach einer echten Familie ihre Gefühlswelt wieder mal erschütterte. Und seit die Sache mit Torsten lief, war ihre Gefühlswelt mit schöner Regelmäßigkeit in Unordnung. Natürlich sprach sie auch mit ihm über ihren unerfüllten Kinderwunsch. "Nichts leichter als das", antwortete er, als dieses Thema wieder auf's Tapet kam. "Du lässt dich scheiden. Wir ziehen von hier weg, und ich mach dir soviele Kinder, wie du vertragen kannst. Überleg nicht lange. Du weißt, wie ich dieses Versteckspiel hasse."
Betrogen hatte sie Friedbert ja schon lange, und ein Kind würde einfach ihr stupides, leeres Leben endlich in die richtige Richtung lenken. So quälte sich Vanessa Monat um Monat mit der Lächerlichkeit dieses Gedankens und dessen Faszination. Doch seit ein paar Wochen drehten sich ihre Gedanken nicht mehr darum, eventuell neues Leben zu schenken, sondern eher um das Gegenteil. Torsten drängte sie wieder einmal, sich endlich zu entscheiden. Und als Vanessa auf seine Fragen die falschen Antworten gab, rastete er aus. "Du glaubst wohl, du hättest mehr Verstand als ich", regte er sich auf. "Die paar Jahre, die du mehr auf dem Buckel hast, geben dir nicht das Recht, mich wie einen kleinen Jungen zu behandeln. Das ist auch mein Leben und meine Zukunft." Er zog sie am Handgelenk zu sich. Er fasste etwas härter zu, als sie es erwartet hatte, und seine Augen sprühten, so dass ihr ein Schauer über den Rücken lief. "Vanessa! Hör gut zu." Seine sonst so warme Stimme, war nur noch ein leises Krächzen. "Ich gebe dir noch vier Wochen, dann will ich deine Zusage, dass du dich scheiden lässt. Ich warte nicht mehr länger. Solltest du dich dann immer noch weigern, dann..." "Au! Du tust mir weh!", schrie Vanessa, riss ihren Arm aus seiner Faust und wich einen Schritt zurück. Ihre laute Stimme und ihre angstvoll aufgerissenen Augen schienen Torsten halbwegs zur Besinnung kommen zu lassen. Er ging besorgt auf sie zu und legte seine Arme um ihre Taille. "Entschuldige Liebes, aber ich halte das nicht länger aus". Er drehte sich von ihr ab und versuchte mit Händen und Armen seinen Worten mehr Deutlichkeit zu verleihen. "Ich sag' es noch einmal. Ich bin fest entschlossen, dich zu heiraten und mit dir eine Familie zu gründen".
"Wie stellst du dir das vor? Du hast mir wehgetan. Du gehst jetzt besser. Wir reden ein andermal weiter." Vanessa rieb sich ihr gerötetes Handgelenk. Sie hob entschlossen den Kopf und ging an ihm vorbei zur Haustür. "Es tut mir leid, ich sagte es schon. Aber du solltest wissen, dass es mir ernst ist mit uns beiden. Sehr ernst.", entgegnete Torsten scheinbar gefasst und mit leiser Stimme. "Ich werde erst in vier Wochen wieder herkommen. Und denk dran ich werde ein Nein nicht akzeptieren. Ich habe es mir reiflich überlegt."
Vanessa öffnete mit zitternder Hand die Tür.
"Was wirst du tun", fragte sie mit gesenktem Kopf, "wenn ich bei meiner Meinung bleibe?"
Torsten, der mindestens zwei Kopf größer war, als sie, ging auf sie zu und beugte sich zu ihrem Ohr, als wolle er ihr ein Geheimnis anvertrauen. "Mir fallen da bestimmt ein paar nette Sachen ein", raunte er, "Zumindest werde ich dafür sorgen, dass das ganze verlauste Kaff von deinem Ehebruch erfährt. Was dein lieber Gatte dann mit dir anstellt, weiß ich nicht, doch seine Begeisterung wird sich in Grenzen halten. Und wie deine Nachbarn und Freunde reagieren, werden wir dann ja erleben." Er grinste höhnisch und machte einen Schritt nach draußen. "Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Mir wird das Gerede am Arsch vorbei gehen. Und meine Mutter..., also mit Katharina werde ich allemal fertig."
Er nahm sein Fahrrad und verschwand in der kühlen Nacht.
Vanessa war sprachlos. Sie schloss die Tür und ging mit wackligen Knien ins Wohnzimmer. Sie musste sich setzen. Das war doch nicht ihrTorsten, der sie da so brutal erpressen wollte. Jedenfalls nicht der, den sie bisher zu kennen glaubte. Sie saß auf dem Sofa, und die ganze, hässliche Szene lief vor ihrem inneren Auge noch einmal ab. Sie begriff langsam, dass es kein Albtraum war, aus dem sie hätte erwachen können. Es war die bittere Realität. Wie ein Häufchen Elend saß sie da, warf ihren Kopf in die Hände und ließ ihren Tränen freien Lauf.
In dieser Nacht machte sie kein Auge zu. Sie dachte lange und gründlich nach und fand auch eine Lösung. Sie wollte sich von niemandem mehr unter Druck setzen lassen und ihr Leben in ihre eigenen Hände nehmen. Nach der Enttäuschung kam die Wut und der feste Vorsatz, diesem Spuk ein Ende zu bereiten. Ihr Problem war Torsten Bergmann, und dieses Problem musste beseitigt werden! Endgültig.
Die vier Wochen, bis zu ihrem nächsten Schäferstündchen, benutzte Vanessa, um ihr Vorhaben täglich bis ins kleinste Detail zu durchdenken, um nur ja keinen Fehler zu machen.
"Du kannst heute nicht lange bleiben". Vanessas Stimme klang ruhig und emotionslos, als sie begann die Rolläden an den beiden Wohnzimmerfenstern herunterzulassen.
"Ich hatte heute einen stressigen Tag in der Praxis, und mir brummt der Schädel".
"Du hörst dich ja an, als wären wir schon tausend Jahre verheiratet. Heute nicht, ich hab' Migräne", äffte Torsten. "Gut. Auf dein Schlafzimmer habe ich heute auch keine Lust. Was ich heute von dir will, weißt du ja hoffentlich noch, nämlich eine klare Antwort". Er baute seine Einsfünfundneunzig breitbeinig vor ihr auf und hob fragend die Augenbrauen. "Also gut, reden wir", antwortete Vanessa, ging an ihm vorbei in die Küche, ohne ihn anzusehen. Torsten Bergmann ließ sich lässig auf das Sofa fallen. "Du hast es scheinbar immer noch nicht kapiert", drang seine Stimme in die Küche.
"Was zu sagen war, hab' ich gesagt. Ich will von dir nur ein klares und deutliches Okay.
Sonst nichts."
Vanessas Hände hatten schon lange nicht mehr so gezittert, wie jetzt, als sie das heiße Wasser in die beiden Tassen goss. Sie ging wieder ins Wohnzimmer, wo sie eine der Tassen vor ihm auf den Tisch stellte. Mit der zweiten Tasse in der Hand, setzte sie sich ihm gegenüber in den braunen Ledersessel. "Vorsicht! Der ist heiß", sagte sie teilnahmslos und nippte an ihrem Instant-Cappuccino.
"Ich höre?!" Torsten nahm seine Tasse vorsichtig in beide Hände und lehnte sich zurück.
"Wenn du mir versprichst, mir gegenüber nie wieder in einem solchen Ton zu reden, wie beim letzten mal, bin ich bereit, mich von Friedbert zu trennen, und mit dir ein neues Leben zu beginnen." Torsten nahm einen großen Schluck und stellte seine Tasse auf den Tisch. Er ging lächelnd auf Vanessa zu und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. "Ich wusste, dass du eine kluge Frau bist". Er ging in die Hocke und küsste ihre Hand. "Entschuldige, dass ich damals etwas grob geworden bin. Aber du weißt, dieses ewige Hin und Her und dieses Versteckspielen zerrt auch an meinen Nerven." Er stand auf und trank seine Tasse leer. "Gut, dass das geklärt ist. Ich komme morgen Abend noch mal her. Friedbert trifft sich im Klubheim mit dem Vorstand wegen dem Turnier nächsten Monat. Dann reden wir über alles Weitere."
Vanessa bemerkte, als sie ihn zu Tür begleitete, dass er Schweiß auf der Stirn hatte, und sich mehrfach mit der Hand an die Kehle griff, so, als würde ihn da etwas stören.
"Was ist mit dir", fragte sie besorgt. "Ich weiß nicht", antwortete Torsten schwer atmend, mir ist heiß und irgendwie der Hals zu eng. Entweder vertrag ich keinen Cappuccino mehr, oder ich krieg 'ne Erkältung." "Am besten legst du dich gleich hin, wenn du zu Hause bist. Mach's gut." Vanessa gab Torsten einen Kuss auf die Wange und schloss die Tür.
Am nächsten Morgen rief Torsten im Betrieb an, dass er später käme, weil er sich nicht gut fühle und zuerst zum Arzt gehen wolle.
"Lass dir einen Termin für ein Belastungs-EKG geben und komm' morgenfrüh nüchtern zur Blutabnahme". Dr. Scherer machte eine besorgtes Gesicht. "Das sieht mir nicht nach einer Erkältung aus, Torsten. Wir sollten deshalb abklären, ob Herz und Lunge in Ordnung sind. Mit Atembeschwerden und Herzrasen ist selbst in deinem Alter nicht zu spaßen."
Dr. Scherer kannte die meisten Spieler des Fußballvereins schon lange Jahre und war selbst ehemals aktives Mitglied. Das plötzliche, heftige Auftreten der Beschwerden bei Torsten beunruhigte ihn deshalb.
Auch der Patient, der eine Stunde später die Arztpraxis aufsuchte, war ein Vereinsmitglied. Vanessa war erstaunt, als ihr Mann zur Anmeldung kam. Sie hatte von einer etwaigen Krankheit Friedberts nichts bemerkt.
"Wenn sie heute nach Hause kommen, pflegen sie ihn ordentlich, Frau Gehner. Der Mann hat eine fiebrige Erkältung und gehört sofort ins Bett. Aber alleine!", lachte ihr Chef, Dr. Scherer, als er mit Gehner aus dem Sprechzimmer kam. Ihr war klar, dass sie ihr Treffen mit Torsten heute Abend vergessen konnte. Sie musste zusehen, dass sie ihn im Laufe des Tages benachrichtigen konnte. Andererseits war es für ihren Plan, der ihr Problem lösen sollte, äußerst wichtig, dass Torsten, so bald es ging, zu ihr nach Hause kam.
Als Friedbert Gehner seine Haustür aufschloss, fühlte er sich so elend, wie schon lange nicht mehr. Seine Beine wollten ihn nicht mehr tragen und sein Schädel schmerzte so heftig, dass er versucht war, ihn gegen die Wand zu schlagen. "Verfluchte Sommergrippe", ärgerte er sich. "Ausgerechnet jetzt muss ich schlapp machen, wo die Vorbereitungen zum Turnier anstehen". Er ging zum Kühlschrank. Er hatte Durst und wollte ein Glas Mineralwasser trinken. Die Tabletten, die ihm der Arzt verschrieben hatte, legte er auf die Arbeitsplatte direkt neben das Buch, das seine Frau dort hatte liegen lassen: "Heilkräuter- und Pflanzen in der modernen Medizin", las er auf dem Buchumschlag. "Ja, so ein heilendes Pflänzchen, das mich bis morgen wieder fit macht, wäre genau das Richtige", dachte er bei sich. Er nahm aus dem Küchenschrank zwei Aspirin gegen seinen Brummschädel, dabei stieß er ein kleines Fläschchen mit einer farblosen Flüssigkeit und einem Gummiverschluss um. Aber darüber nachzudenken, ob er dieses Fläschchen schon mal gesehn hatte, schien ihm doch zu mühsam. Er spülte die beiden Schmerztabletten und eine der verschriebenen Kapseln mit einem großen Glas Mineralwasser hinunter. Die Decke über den Kopf ziehen und nur noch schlafen, war sein Gedanke, als er sich auf sein Bett fallen ließ. Und er hoffte, dass es ihm wieder besser gehen würde, wenn er wieder aufwachte.
"Telefon für dich, Torsten!", rief der Vorarbeiter und winkte mit dem Hörer in Torsten Bergmanns Richtung. Der war mit einem Satz vom Stapler und ging zum Apparat in der Lagerhalle. "Uli Hoeneß ist dran", grinste sein Kollege, als er ihm den Hörer gab.
"Bayern München sucht 'nen neuen Torwart".
"Blödmann!", kam es mit gespielter Empörung aus Torstens Mund. Vanessa erklärte ihm am anderen Ende der Leitung, was passiert war, und dass sie mit ihrem Gespräch noch zwei Tage warten sollten. Bis dahin, meinte sie, wäre ihr Mann bestimmt wieder so weit gesund, daß er wieder in den Verein gehen würde. Torsten war einverstanden, wollte aber auf keinen Fall länger warten, sonst müsse man sich eben einen anderen Treffpunkt überlegen.
Als Friedbert Gehner aufwachte, zeigte die Wohnzimmeruhr drei Minuten nach vier.
Er setzte sich auf die Bettkante und versuchte Ordnung in seine Gehirnwindungen zu bringen. In seinem Kopf ging es immer noch zu, wie in einem Bienenstock. Der hämmernde Schmerz hatte sich in einen unangenehmen Druck verwandelt, so als hätte man seinen Schädel mit Dämmschaum ausgefüllt, der nun langsam sein Volumen vergrößerte und sein Gehirn gegen die Schädeldecke drückte. Mit halbgeschlossenen Augen ging er zur Toilette und danach wieder zum Kühlschrank. Er ersparte sich das Einschenken und trank das restliche Wasser direkt aus der Flasche. Seine Kehle war trockener, als die Sahara, und seine Zunge fühlte sich pelzig an. Er hatte einen Geschmack im Mund, als hätte er ein Paar alter Socken gefrühstückt. Er nahm sich eine zweite Flasche aus dem Kühlschrank und schluckte eine weitere Kapsel. Schweiß trat auf seine Stirn. Sein Körper glühte. Ihm fiel wieder das Fläschchen von heute morgen ein, das er umgestoßen hatte. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Im letzten Winter hatte Vanessa doch diese schwere Grippe und brachte aus der Praxis "Dr. Scherer's Wundertropfen" mit. Die halfen ihr damals hervorragend.
"Kann ja nichts schaden. Schlechter als jetzt, kann's mir nicht mehr werden", dachte er bei sich und nahm einen Eßlöffel aus der Schublade. Er goss sich das Glas voll, das noch von heute morgen da stand, zog die Gummikappe von der Arzneiflasche und ließ die klare Flüssigkeit in den Löffel laufen. Dann kippte er die Medizin in einem Schluck hinunter und trank das Glas Mineralwasser leer. Auf seiner Armbanduhr war es gleich viertel nach Vier. "Bis Vanessa kommt, wird's halb sechs. Bis dahin kann ich noch 'ne gute Stunde schlafen", murmelte er vor sich hin. Er stellte die Wasserflasche wieder in den Kühlschrank und das Medizinfläschchen zurück in den Schrank und legte sich wieder hin.
Wäre er nicht so fertig gewesen, hätte er das Etikett der kleinen Arzneiflasche sicherlich aufmerksam gelesen.

Als Vanessa ihn fand, war er bereits tot.
Friedbert Gehner lag mit weit aufgerissenen, glanzlosen Augen und offenem Mund in seinem Bett. Sein Gesicht und seine Lippen waren von unnatürlich blauer Farbe.
Vanessa kam ein schrecklicher Verdacht. Sie lief in die Küche und nahm das kleine Fläschchen aus dem Schrank. Sie sah sofort, dass etwas fehlte. Für einen gesunden Mann hätte diese Menge sicher nicht ausgereicht, das hatte sie ja bei Torsten gemerkt, aber Friedberts Körper war wohl zu geschwächt gewesen für diese Dosis.
Sie nahm die kleine Flasche in ihre zitternden Hände und las noch mal das Etikett.
"Acomitin - Lösung - VORSICHT GIFTIG! Planzliches Alkaloid (Blauer Eisenhut)"
Darunter war ein großer Totenkopf aufgedruckt.
Vanessas Augen füllten sich mit Tränen, als ihr klar wurde, dass sie ein Eigentor geschossen hatte.